Nummer 13182

Miroslaw Firkowski war Häftling in Auschwitz. Sechzig Jahre später kehrt er dorthin zurück - um der Toten zu gedenken

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OSWIECIM (AUSCHWITZ), 27. Januar.

Der Bus war fast in Auschwitz angekommen, da machte Miroslaw Firkowski kurz die Augen zu. Dann richtete er sich wieder auf. So als müsste er sich zusammenreißen. Er kramte das Asthma-Spray aus der Plastiktüte und inhalierte. "Man muss vergeben können", sagte er. Auch den Nazis? "Was bleibt mir anderes übrig?"

Es ist eisig kalt. Dichter Schnee fällt vom Himmel. Miroslaw Firkowski, 83 Jahre alt, sitzt jetzt schon eine Weile auf seinem Stuhl unter freiem Himmel, zusammen mit den anderen ehemaligen Häftlingen. Den Ehrengästen. Sie warten darauf, dass der Festakt beginnt. Die Feier zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers. Auf ihren Hüten und Mänteln sammeln sich weiße Flocken.

Die Zeremonie beginnt. Der Pfiff einer Lokomotive ertönt. Er soll an die Züge erinnern, mit denen hunderttausende Menschen hierher gebracht wurden. In die Gaskammern. In den Tod.

Firkowski trägt die graue Krawatte, seinen wärmsten Anzug und seinen wärmsten Mantel. Mehr als zwei Stunden lang wird er hier draußen auf seinem Ehrenplatz ausharren. Der Wind wird stärker.

Am Abend vorher hatte Firkowski erzählt, wie es vor fünf Jahren war. Dass der Kardinal von Krakau so lang geredet hat und alle fast erfroren wären. Das Atmen fällt ihm schwer. Er hustet oft, obwohl er nicht raucht. In Neuengamme, einem der drei Lager, in denen er zwischen 1940 und 1945 inhaftiert war, hat er sich eine Lungenentzündung geholt. Ein schlechter Arzt entfernte ihm später einen Lungenflügel.

Am Dienstagmorgen ist Miroslaw Firkowski von zu Hause losgefahren. Er wohnt mit seiner schwer kranken Frau Maria in einer Plattenbausiedlung im Süden von Lodz, bei der Endhaltestelle der Straßenbahnlinie 13. An der Wand eines benachbarten Blocks steht "Juden Raus". Ihre Wohnung liegt im zweiten Stock. Sie ist klein und voller brauner Teppiche. An den Wänden hängen bunte Plastikblumen, in den Regalen hocken weiße Porzellankatzen. Darüber hängt ein Bild vom jungen Papst.

Direkt neben dem Bett steht ein Campingtisch mit Salben, Tropfen und Tabletten. Daran hängt der Urinbeutel, den Firkowski vorher noch für seine Frau ausgeleert hat. Danach hat er ihre vom Liegen mit blauen Flecken übersäten Beine eingesalbt. Sie hat vor Schmerzen gestöhnt. Er pflegt sie ganz allein. Wenn er jetzt wegfährt, kümmert sich der jüngste Sohn um sie. Gibt es keinen Pflegedienst? Firkowski lacht. "Aber Fräulein, wo denken Sie hin? Wir haben 2 000 Zloty im Monat zum Leben, das sind umgerechnet 500 Euro. Eine Pflegerin würde 15 Euro am Tag kosten! Rechnen Sie das mal für einen Monat aus!"

Sein älterer Sohn Piotr fährt den kleinen, weißen Skoda vor die Haustür. Es kann losgehen. Auf dem Weg von Lodz nach Auschwitz wird Miroslaw Firkowski einen Zwischenstopp in der Hauptstadt einlegen. Dort holt er sich beim polnischen Präsidenten einen Orden ab. Seinen fünften. Es geht über verschneite Landstraßen. Der Sohn erzählt, wie er geweint hat, als er erfuhr, dass sie seinen Vater fast vergast hätten. "Aber nur fast", sagt Firkowski und lacht. Er lacht oft. Auch über die halbnackte Frau am Strand, daheim auf seinem Bildschirmschoner.

Er sieht gut aus für sein Alter, hat rosige Haut, wenige Falten und weißes Haar. Seine vielen Folgeleiden aus der Lagerzeit sieht man ihm nicht an. Die Leiden von fünf Jahren Folter und Psychoterror, von Krankheiten wie Typhus, Krätze und Durchfall, von medizinischen Experimenten, ständigem Röntgen, Abmagerung auf 38 Kilo, Quetschungen, Entzündungen.

Firkowski spricht schnell. Er sagt, dass die Menschen nicht vergessen sollen. Niemals. Als er im vergangenen Jahr in Frankfurt mit einer Gruppe Berufsschüler über den Holocaust sprach, war er schockiert, wie wenig sie wussten. In den Lagern starben Millionen Menschen. Heute verschwinden viele Ereignisse aus dem Gedächtnis. Aber diese Dinge darf man nicht vergessen. Das ist die Aufgabe der Schulen und Medien. Er sagt es immer wieder.

Firkowski hat seine Geschichte aufgeschrieben. Nach dreißig Jahren Schweigen. Im Jahr 1975 gab er dem Drängen seiner Frau nach, und begann mit dem Schreiben. Es dauerte zwei Monate. "Diese Zeit war für uns wie Sodom und Gomorra", sagt sein Sohn Piotr. "Wir durften ihn nicht ansprechen. Es war so, als ob er alles noch einmal erlebt. "Ja, so war es", sagt der Vater. Die Straße wird schlechter. Piotr muss bremsen.

Die Geschichte von Miroslaw Firkowski heißt "Durch drei Konzentrationslager - Erinnerung nach Jahren". Sie soll bald gedruckt werden. Einen Verlag in Lodz haben sie schon. Leider fehlt das Geld für den Druck. "Vielleicht können Sie schreiben, dass wir Sponsoren für das Buch meines Vaters suchen?", sagt Piotr.

Nach knapp drei Stunden Autofahrt steht Firkowski mit einem Orden an der Brust unter dem goldenen Kronleuchter im Säulensaal des Warschauer Präsidentenpalastes. Nur ein paar Schritte vor ihm steht der polnische Präsident auf einem flauschigen Teppich und sagt: "Alles, was in den nächsten Tagen passieren wird, stärkt unsere Solidarität und unseren Glauben an eine bessere Zukunft." Bei dem Orden handelt es sich um das "Offizierskreuz der Wiedergeburt Polens".

Nach der Ehrung begrüßt Firkowski bei Champagner und Lachshäppchen mit Meerrettich alte Bekannte. "Hallo Mirek!" sagt Marian Sobol aus Danzig. Sie umarmen sich. Beide sind kleiner als die meisten hier im Saal. "Ich war Nummer 2389 - zwei, drei, acht, neun - zweitausenddreihundertneunundachtzig", sagt Marian Sobol. Firkowski gähnt. Er hat letzte Nacht wenig geschlafen. "Na, wir sehen uns ja in Auschwitz!" "Ja, bis morgen!"

Sein Sohn Piotr holt noch mehr Kuchen. "Köstlich! Iss, Papa, alles umsonst!" sagt er. Und dann im Flüsterton: "Toll hier, nicht?"

Mit einem Kuss verabschieden sich Vater und Sohn auf dem Parkplatz vor dem Präsidentenpalast. Am späten Abend wird Miroslaw Firkowski rund 300 Kilometer weiter südlich im Hotel Adria in der Nähe der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau absteigen. Aber er hat noch sechs Stunden Busfahrt vor sich. Vorbei an den ärmlichen Straßenmärkten und grauen Plattenbauten der Warschauer Vorstadt fährt der Bus auf die Autobahn.

Birkenwälder ziehen draußen vorbei. Die Straßen sind glatt, der Bus kann nur langsam fahren. Firkowski hat eine Visitenkarte dabei. Auf der Vorderseite steht sein Name mit seiner Adresse. Es erschien ihm nicht erwähnenswert, dass er fast dreißig Jahre lang als Buchhalter gearbeitet hat. Das Wichtige steht - ordentlich aufgelistet, hinter sechs Gedankenstrichen - auf der Rückseite des Kärtchens: Verteidigungskampf 1939, Widerstandsbewegung, politischer Häftling im KZ Auschwitz I Nr. 13182, im KZ Neuengamme, Nr. 18565, und im KZ Bergen-Belsen. Ganz unten auf der Karte steht: "Befreiung durch die Britische Armee am 14. April 1945".

Firkowski hat sich daran gewöhnt, über die Stationen seines fünf Jahre dauernden Albtraums zu berichten. Er ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft zur Betreuung von Auschwitz. Ein Hamburger Historiker hat seine Magisterarbeit über Firkowskis Transport von Auschwitz nach Neuengamme geschrieben, ihn stundenlang interviewt. Neulich fragte ihn eine Radioreporterin, ob er nicht weinen müsse, wenn sie ihn zu Auschwitz befragt. Er hat ihr geantwortet: "Weinen? Wozu weinen? Das ist doch 60 Jahre her. Ich könnte weinen, wenn Sie mich über heute befragen."

Er ist schon oft an die Orte des Verbrechens zurückgekehrt. Nach Auschwitz sogar fünfzehn Mal, oder zwanzig Mal? Er weiß es nicht mehr genau. "Es ist so, als wenn ich an einem Grab auf dem Friedhof trauere. So viele meiner Freunde sind in Auschwitz ermordet und verbrannt worden", sagt er.

Er war achtzehn Jahre alt, als er von den Deutschen verhaftet wurde. 1940 wurde er in seinem Heimatort Knoskie als Gymnasialschüler und Pfadfinder des Widerstandes verdächtigt. Die Deutschen brachten ihn und seine Schulfreunde ins Gefängnis nach Kielce und folterten ihn. Sie schlugen mit einem Eisenhocker auf seinen rechten Unterarm, bis er brach. Ein SS-Mann band ihm die Arme auf dem Rücken zusammen und hängte ihn an einen Pfahl. Die Schmerzen müssen unerträglich gewesen sein.

"Entschädigung ist nur ein Wort", sagt Firkowski. "Die Häftlinge, die ein halbes Jahr in Auschwitz waren, haben genauso viel bekommen wie die, die fünf Jahre inhaftiert waren. Für wie viel Geld kann man Gesundheit kaufen? Es ist schwer zu sagen, wofür man entschädigt werden soll. Ich habe ja Geld bekommen. Und alle drei Jahre darf ich ins Sanatorium nach Deutschland. Im vergangenen September war ich endlich da. In Bad Schwalbach. Es war fantastisch! Da kann man sich erholen. Allerdings konnte ich die letzten sechs Jahre davor nicht fahren, wegen meiner Frau. Ich werde wohl auch nicht so bald wieder hin können."

Es ist dunkel geworden in Auschwitz. Der große Platz vor der Eisenbahnrampe in Birkenau, wo die Lager-SS über Tod oder Leben der ankommenden Häftlinge entschied, ist jetzt in gleißendes Scheinwerferlicht getaucht. Noch immer fällt dichter Schnee. Die Reden sind vorbei. Die Staatschefs treten hervor und stellen Kerzen auf die Gedenksteine. Flammenspuren beleuchten die Gleise, die zu dem Tor führen, durch das damals die Todeszüge rollten. Dazu ertönt Streichmusik. Immer nur ein Ton. Auf- und abschwellend. Laut und leise.

Israels Präsident Mosche Katzav hatte in seiner Rede gesagt, dass es in Auschwitz immer noch so ist, als ob man die Schreie der Toten hören könne.

Miroslaw Firkowski sitzt auf seinem Stuhl in der Kälte. Er wird das aushalten. Er hat es ja immer ausgehalten.

Berliner Zeitung 28.01.2005 - Mia Raben